Stellungnahme zur Studie“Reconstitution in Vitro of the Entire Cycle of the Mouse Female Germ Line” von Professor Peter Dabrock, Vorsitzender des Deutschen Ethikrates


16.12.2016   News


Aus pluripotenten Stammzellen, die z. B. aus der Haut gewonnen werden können, hat man bei Mäusen bereits früher funktionsfähige Ei- und Samenzellen hergestellt, aus denen sich nach Befruchtung lebensfähige Nachkommen entwickeln konnten. Dabei ist die Gewinnung beider Keimzelltypen – also von sowohl Ei- als auch Samenzellen - aus den Körperzellen eines Tieres denkbar und im Tierversuch auch bereits weitgehend umgesetzt worden. 

Die neue Studie (Nature, doi: 10.1038/nature20104) stellt insofern einen wichtigen Fortschritt dar, als es hier erstmals gelungen ist, aus Stammzellen gewonnene Eizellen vollständig in vitro – also in der Petrischale - reifen zu lassen. Zuvor konnten die letzten Reifeschritte nur stattfinden, nachdem man aus Stammzellen gewonnene Keimbahnzellen zurück in den Körper eines Versuchstiers verpflanzt hatte. Sollte sich das nun an der Maus entwickelte Verfahren auf den Menschen übertragen lassen, könnte dies langfristig die Gewinnung fast unbegrenzter Mengen von Eizellen aus Körperzellen ermöglichen, wobei die aktuelle Nature-Studie auch zeigt, dass es offensichtlich noch Qualitätsunterschiede bei den erzeugten Eizellen zu geben scheint. Solch ein Szenario könnte disruptive Konsequenzen für die Fortpflanzungsmedizin und das grundlegende Verständnis menschlicher Reproduktion haben. 

Die begrenzte Verfügbarkeit von Eizellen und die Unannehmlichkeiten und gesundheitlichen Risiken bei ihrer Gewinnung gelten derzeit als ein entscheidender limitierender Faktor in der Fortpflanzungsmedizin. Sollten Eizellen eines Tages in großen Mengen risiko- und schmerzfrei aus Körperzellen herstellbar sein, könnte eine künstliche Befruchtung für deutlich mehr Frauen interessant bzw. aussichtsreicher werden, gerade auch im höheren Alter, wenn die natürliche Fruchtbarkeit nachlässt. Die Eizellspende, die aus vielen Gründen umstritten und in Deutschland verboten ist, würde überflüssig werden.

Zumindest in Staaten mit liberalerer Gesetzgebung wäre auch der großflächige Einsatz von Präimplantationsdiagnostik denkbar. Wenn sehr große Mengen von aus Körperzellen entwickelten Eizellen befruchtet und genetisch untersucht würden, könnte man auch die Zahl der auswählbaren „Wunsch“-Merkmale deutlich erhöhen – ein „Designerbaby“-Szenario. In Deutschland wäre eine solche Massenherstellung und -selektion von Embryonen derzeit allerdings verboten.

Dadurch, dass bei der Entwicklung von Keimzellen aus Körperzellen auch die Gewinnung von Spermien aus den Zellen einer Frau und von Eizellen aus den Zellen eines Mannes denkbar ist, tauchen am Horizont zudem nochmals neue Möglichkeiten im bereits jetzt großen Spektrum ungewöhnlicher Fortpflanzungskonstellationen auf. Nicht nur lesbische, sondern auch schwule Paare könnten genetisch eigene gemeinsame Kinder bekommen – wobei Männer dabei nach wie vor auf eine Leihmutterschaft angewiesen wären, die in Deutschland derzeit verboten ist. Sogar Kinder mit nur einem Elternteil wären denkbar, die aus dem künstlich entwickelten Ei- und Samenzellen einer einzigen Person entstehen und dennoch keine Klone sind. Der Deutsche Ethikrat hat bereits 2014 in seiner Ad-hoc-Empfehlung „Stammzellforschung – Neue Herausforderungen für das Klonverbot und den Umgang mit artifiziell erzeugten Keimzellen?“ auf einige dieser Herausforderungen hingewiesen.

Für die Wissenschaft schließlich könnte das Verfahren die Forschung mit Embryonen und embryonalen Stammzellen erleichtern. In Deutschland ist Forschung an Embryonen und die Zerstörung eines Embryos zum Zwecke der Herstellung embryonaler Stammzellen zwar verboten. Aber selbst in Ländern mit einer liberaleren Gesetzgebung wird als kritisches Argument gegen die Embryonenforschung angeführt, dass man dazu auf gespendete Eizellen angewiesen sei. Diese Kritik würde mit der neuen Methode, so sie auf Menschen übertragen werden könnte, gegenstandslos. Eizellen stünden nahezu endlos zur Verfügung.

All dies zeigt, dass sich der Optionsraum technischer Reproduktion dramatisch erweitern könnte; viele moralische, gesellschaftliche und rechtliche Herausforderungen ergäben sich aus diesen Möglichkeiten. Fortpflanzung im Zeitalter gesteigerter technischer Reproduzierbarkeit würde wiederum weniger selbstverständlich. 

Aber schon jetzt gilt: Die immer leichter erscheinenden Möglichkeiten, aus normalen, adulten Zellen funktionsfähige Keimzellen zu erstellen, sollte auch in Deutschland die Nachdenklichkeit fördern, ob unsere gegenwärtige Gesetzeslage zum frühesten menschlichen Leben noch angemessen ist. Man muss sich ernsthaft fragen, ob man zukünftig nicht nach jeweiligen Verantwortungskontexten (Forschung oder Reproduktion) die Verbotsbestimmungen ausrichtet und nicht – wie bisher – abstrakt nach ontologischen Grenzen. Diese scheinen – das zeigen diese aktuellen Forschung zumindest bei der Maus einmal mehr – immer brüchiger zu werden. 

 

Prof. Dr. Peter Dabrock

Professor für Systematische Theologie/Ethik, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Vorsitzender des Deutschen Ethikrates (www.ethikrat.org)